Umdenken für die Energiewende
Wie ein Pumpspeicherkraftwerk auf den Kopf gestellt wird
Sie haben richtig gelesen: Ein Pumpspeicherkraftwerk auf den Kopf stellen – das ist die innovative Idee, um den steigenden Bedarf an Speicherkapazitäten im Zuge des Ausbaus erneuerbarer Energien zu decken. Wie das funktioniert, warum das ein zukunftsweisendes Konzept für zahlreiche Regionen ist und welche entscheidenden Aufgaben zum Gelingen Fichtner übernimmt, erzählt mein Bericht.
Klar ist: Der Ausbau erneuerbarer Energien ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Und eine Hürde dabei ist die Speicherung von Strom, um Angebot und Bedarf auszugleichen.
Der Name sagt alles: Zero Terrain Technology
Pumpspeicherkraftwerke sind seit hundert Jahren eine bewährte Lösung des Problems und stellen derzeit rund 97 Prozent der weltweiten Stromspeicherleistung dar. Doch der Bau neuer Anlagen gestaltet sich oft schwierig, weil Standorte mit geeigneten topologischen Gegebenheiten rar sind. Eine Lösung, die das überwinden kann: die Zero Terrain Technology, entwickelt von Energiasalv Pakri OÜ aus Estland.
Die Idee: das Pumpspeicherkraftwerk wird auf den Kopf gestellt, indem natürliche Gewässer als Oberbecken und eine Kaverne als Unterbecken genutzt werden. Das Potenzial dieser Idee ist gewaltig, denn sie eignet sich gleichermaßen für Küstenregionen wie für Binnenlandstandorte mit großen Seen oder Flüssen, wenn felsiger Untergrund den Bau einer Kaverne gestattet.
„Die Idee des umgekehrten Pumpspeichers klingt einfach,
braucht aber spezielles Know-how“,
sagt Peep Siitam, Gründer von Energiasalv.
Das erste Kraftwerk mit diesem neuen Konzept entsteht in Paldiski, im Nordwesten Estlands, wo die Ostsee als Oberbecken genutzt wird und eine künstlich geschaffene Kaverne als Unterbecken. Gefördert von der EU soll bis 2029 ein Pumpspeicherkraftwerk mit 500 MW Leistung entstehen, das durch den Bau weiterer Kavernen in Zukunft erweitert werden kann. Die Aufgabe von Fichtner: Wir wurden beauftragt, die beste Lösung für den Bau dieser innovativen Anlage zu finden.
Bergbau-Wissen trifft Energie-Know-how
„Der Vorteil des Paldiski-Projekts ist sein einfaches Prinzip, aber die Infrastruktur unter der Erde verlangt deutlich mehr unterirdische Arbeiten als normal“ weiß Peep Siitam, und ergänzt: „Die größte Herausforderung ist der Bau der 700 Meter in die Tiefe reichenden, großen Schächte.“
Hinzu kommt, dass der Bau zehn großer Kavernen als Unterbecken sowie der Krafthaus- und Transformatorenkaverne eine weitere Herausforderung darstellt.
Eine komplexe Aufgabe, für die Fichtner multidisziplinäre Teams aus Energie- und Bergbauingenieuren sowie aus Geologie- und Geotechnik-Fachleuten zusammenstellte, damit das Projekt von der Entwurfsphase bis zur Umsetzung geführt und begleitet werden kann.
Zunächst erarbeitete das Team Entwurfsalternativen, untersuchte sie auf ihre Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit und gab schließlich die Empfehlung für die Variante, die jetzt umgesetzt wird. „Fichtner hat in einem Konsortium mit dem Ingenieurbüro Steiger eine geotechnische Untersuchung durchgeführt und eine technische Lösung erarbeitet, die durch ihre Flexibilität und Effizienz überzeugt“, urteilt Siitam.
![Lageplan auf Luftbild des Pumpspeicherkraftwerks Paldiski in Estland Lageplan auf Luftbild des Pumpspeicherkraftwerks Paldiski in Estland](https://blog.fichtner.de/wp-content/uploads/2023/08/Paldiski_map_800x588.jpg)
Technische Lösungen und wirtschaftliche Optionen
Neben komplexen technischen und geologischen Bedingungen spielen natürlich auch wirtschaftliche Kriterien eine entscheidende Rolle.
„Um die Wirtschaftlichkeit zu beurteilen, müssen wir solche Projekte gegen den Markt rechnen“, berichtet Dr. Sebastian Palt, Projektbereichsleiter Wasserkraft bei Fichtner.
Das heißt in diesem Fall, die Optionen an der skandinavischen Strombörse Nord Pool oder am Markt für Regelenergie (Primär-, Sekundär- und Minutenreserve) einzubeziehen und dabei die Vermarktungspotenziale der Zukunft abzuschätzen.
Wasserkraftwerke haben in der Regel lange Bauzeiten und werden für jahrzehntelangen Einsatz geplant. Da Langfristprognosen zahlreiche Unsicherheiten in sich tragen, ist Anpassungsfähigkeit mit entscheidend. Zurzeit sehen die Experten die besten Absatzchancen im Day-Ahead-Markt, rechnen aber mit einer wachsenden Bedeutung der Regelenergie.
Flexibilität erhöhen, Risiken minimieren
Vor dem Hintergrund langfristiger wirtschaftlicher Abwägungen ist beispielweise die Auswahl der Pumpturbinen ein entscheidender Faktor in Sachen Flexibilität. Die Wahl fiel daher auf drei große Pumpturbinen, die auf Last- und Richtungswechsel extrem schnell reagieren können und dadurch die Teilnahme am Markt für Regelenergie erlauben.
Anpassungsfähigkeit bringt das Projekt nach Peep Siitams Einschätzung auch in anderer Hinsicht mit: „Einer der größten technischen Vorteile des Paldiski-Projekts ist, dass sich die Speicherkapazität jederzeit kostengünstig erweitern ließe, ohne dafür den Betrieb unterbrechen zu müssen. Das ist einzigartig. Und Fichtners größter Beitrag zum Projekt liegt in der Entwicklung genau dieser Lösung.“
Weitergedacht – und an die Umwelt
Ein für die Umwelt bedeutender Beitrag des Fichtner-Teams zum Anlagenlayout ist die Anordnung der Ein- und Auslässe in der Ostsee. Der Grund: Beim Betrieb des Pumpspeichers werden gewaltige Wassermassen im Turbinenbetrieb eingesaugt und im Pumpbetrieb wieder in die Ostsee zurückbefördert. Würde dies durch ein klassisches Ein- und Auslaufbauwerk an einer zentralen Stelle geschehen, hätte das starke Strömungen in der Größenordnung von 1 m/s Geschwindigkeit zur Folge, bei denen Sedimente in das Kavernensystem befördert und die Flora und Fauna beeinträchtigt würden. „Um das zu vermeiden, haben wir ein sechsarmiges Ein- und Auslasssystem entworfen, ähnlich den Einlaufbauwerken von Meerwasserentsalzungsanlagen. Die Öffnungen sind in zirka 15 Metern Tiefe angeordnet und so groß, dass die Geschwindigkeiten bei Volllast im Pump- und Turbinenbetrieb unter 0,2 Meter pro Sekunde liegen“, erläutert Dr. Sebastian Palt. „Das bewirkt eine drastische Reduktion der Strömungsgeschwindigkeiten, vor allem am Boden, und verhindert Schäden an Meeresflora und -fauna.“
![Schema des Pumpspeicherkraftwerks Paldiski in Estland Schema des Pumpspeicherkraftwerks Paldiski in Estland](https://blog.fichtner.de/wp-content/uploads/2023/08/Paldiski_Schema_800x515.jpg)
Teamwork – über alle Disziplinen hinweg
Wie wichtig fachübergreifendes Wissen ist, um diese einzigartige Anlage in ihrer Gesamtheit zu entwickeln und zu bewerten, zeigt ein weiteres Beispiel. Entscheidend gefragt sind die Spezialkenntnisse des Fachbereichs Bergbau der Fichtner Water & Transportation zur Erstellung des Frischluftkonzeptes für die Arbeiten unter Tage. Die Ventilation der Gesamtanlage war ausschlaggebendes Kriterium zur Bestimmung der Durchmesser der 650 Meter tiefen vertikalen Schächte zur Versorgung der Bauarbeiten mit Frischluft.
Ein Fazit
Das Paldiski-Projekt zeigt, wie wichtig fachübergreifendes Wissen ist. Und Fichtner trug maßgeblich zum Design bei und ermöglichte so die Umsetzung einer Technologie, die Pumpspeicherkraftwerke in Regionen ermöglicht, die bislang als nicht geeignet erschienen. Bei Stromüberschuss wird die Kaverne mithilfe von Pumpturbinen entleert, bei Strombedarf wird die Kraft des herabfließenden Wassers über die Pumpturbinen zum Antrieb der Generatoren genutzt.
„Die Zero Terrain Technology ermöglicht Pumpspeicherkraftwerke, für die keine Gebirge mehr nötig sind,“
weiß Peep Siitam. Auch dank der Vernetzung von Wissen und dem interdisziplinären Denken und Arbeiten von Fichtner.
Juli 2023
![Hydropower Projects Director at Fichtner’s Head Office Fichtner employee Dr. Sebastian Palt](https://blog.fichtner.de/wp-content/uploads/2023/06/Sebastian_Palt_500x400.jpg)
Dr. Sebastian Palt
Projektbereichsleiter Wasserkraft