Das Erdbeben in Taiwan vom 3. April

Aufarbeitung der Folgen: Lehren aus dem Erdbeben in Taiwan 2024

Am 3. April 2024, kurz vor 8 Uhr morgens, erschütterte das stärkste Erdbeben in Taiwan seit 1999 die Insel. In diesem Beitrag werde ich einen kurzen Überblick und weitere Informationen zu Bereichen unserer täglichen Arbeit geben. Außerdem möchte ich schildern, wo und wie ich das Erdbeben erlebt habe und einige persönliche Erfahrungen mit Ihnen teilen.

Die meisten von Ihnen werden aus den internationalen Medienberichten wissen, dass sich das Hauptbeben am 3. April 2024 ereignete und mit einer Magnitude von 7,4 das stärkste Erdbeben in Taiwan seit 25 Jahren war. Für mich persönlich war es wahrscheinlich das fünfte oder sechste Erdbeben, das ich seit meiner Ankunft in Taiwan im Mai 2020 gespürt habe. Das Epizentrum lag 16 km südlich der Stadt Hualien an der Ostküste Taiwans. Da die Ostküste sehr steil abfällt, ist das Risiko eines Tsunamis an dieser Küste gering und die maximal gemessene Wellenhöhe in Hualien betrug 1 m.

Stärkstes Beben seit 1999

Nach offiziellen Angaben starben bisher 18 Menschen, 11 davon durch Steinschlag, da das Epizentrum in der Nähe der Berge im Bezirk Hualian lag, wo die Taroko-Schlucht auch ein beliebtes Touristenziel ist. Insgesamt wurden mindestens 1.100 Menschen verletzt. Straßen wurden durch Erdrutsche und eingestürzte Brücken schwer beschädigt. Glücklicherweise waren weder unsere Mitarbeiter noch deren Familien betroffen. Nach Angaben der taiwanesischen Wetterbehörde folgten in den Wochen danach mehr als 1.000 Nachbeben, davon allein am 23. April mehr als 80. Einige dieser Erdstöße ließen manche von uns mitten in der Nacht hochschrecken oder überraschten uns während Besprechungen und Videomeetings, sogar einige unserer Kollegen in Deutschland wurden online Zeugen solcher Nachbeben. In Taipeh waren die Nachbeben jedoch zumeist nur als leichtes Wackeln von Gebäuden, Bildern an der Wand oder Hängelampen zu spüren. So schrecklich der Verlust von Menschenleben und die Schäden auch sind, sie waren weitaus weniger schwerwiegend als bei früheren Erdbeben und insbesondere bei dem letzten großen Beben im Jahr 1999 mit einer Stärke von 7,7: Damals kamen 2.300 Menschen ums Leben.

„Es war erstaunlich, wie gut Taiwan darauf vorbereitet war.“

Die folgende Grafik zeigt alle Erdbeben in Taiwan seit 1970 mit einer Stärke von über 4 auf der Richterskala (von insgesamt 6.300 registrierten). Zu erkennen ist, dass das Erdbeben vom 3. April 2024 zu den stärksten zählt, nur das Erdbeben von 1999 war noch stärker. Vor diesem Hintergrund war erstaunlich, wie gut Taiwan darauf vorbereitet war.

Earthquakes in Taiwan with a magnitude above 4 since 1970
FichtnerConnected_taiwan_earthquake

Erdbeben in Taiwan seit 1970 mit einer Stärke über 4 (Quelle: United States Geological Survey – USGS)

Auswirkungen auf die Infrastruktur

Etwa 28 Gebäude wurden schwer beschädigt (manche gerieten in Schieflage oder kippten gar um) und mussten abgerissen werden. 2.498 Häuser und Gebäude wurden beschädigt und 779 Erdrutsche wurden gemeldet, die Straßen und Brücken blockierten oder zerstörten. Auch wenn die Erschütterungen in Taipeh für die meisten Menschen und Kollegen sehr stark zu spüren waren, waren die Schäden an den Gebäuden meist nur oberflächlich und nicht strukturell. Typische Schäden waren z.B. Risse im Putz oder abbröckelnder Putz. Je höher man in einem Gebäude wohnt, desto größer sind in der Regel die Auswirkungen, da das Gebäude schwankt und Flaschen, Glas und Porzellan aus den Schränken fallen. Die Erschütterungen in unserem Bürogebäude waren so stark, dass ein Sideboard umstürzte und einige Fliesen in den Sanitärräumen rissen und von der Wand fielen.

Ort, Stärke und Erschütterungskarte des Erdbebens der Magnitude 7,2 am 3. April 2024 mit allen Nachbeben in den darauffolgenden 30 Tagen (Quelle: USGS)

Verglichen mit den 82.000 Häusern, die 1999 beschädigt wurden, zeigen die oben genannten Zahlen jedoch deutlich, welche Fortschritte Taiwan in den letzten 25 Jahren gemacht hat. Seit 1999 wurden die Bauvorschriften überarbeitet und sind nun wesentlich strenger als zuvor, vergleichbar mit dem Niveau in Japan. Neue Gebäude werden jetzt häufig mit seismischen Isolationssystemen ausgeführt, in der Regel mit Blei-Gummi-Lagern. Öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser und Schulen mussten auf die neuen Standards nachgerüstet werden. In der Regel wurden dazu statische Verstärkungen angebracht, und insgesamt wurden 1,5 Mrd. Euro für diese Maßnahmen ausgegeben. Der Erfolg dieser Maßnahmen lässt sich daran ablesen, dass kein einziges Schul- oder Krankenhausgebäude schwer beschädigt wurde.

„Die Schäden an den Gebäuden waren meist oberflächlich und nicht strukturell.“

Unser Kollege und Chairman Chiawey Chen war als Experte für Bauingenieurwesen und Mitglied mehrerer Berufsverbände für Bauingenieure in Taiwan an diesem Prozess beteiligt. Da diese konstruktiven Verbesserungen auch mit höheren Kosten verbunden sind, muss die Bauordnung Kosten und Nutzen in Einklang bringen. Nach den aktuellen Anforderungen müssen Gebäude einem Erdbeben der Magnitude 5 standhalten können. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Stabilität der tragenden Säulen, die stärker ausgelegt werden, während die Träger leichter ausgeführt werden. Die Beschädigung eines Trägers wird als akzeptabel angesehen, da das Gebäude nicht einstürzt, solange die tragenden Säulen intakt sind und somit Zeit für eine Evakuierung bleibt.

Verwaltung und Behörden waren sehr gut vorbereitet

Erdbebenlasten, Erdbebensicherheit und die Einhaltung geänderter Vorschriften waren schon immer besondere Kompetenzen von Fichtner in Taiwan, und diese Themen begleiten uns ständig bei all unseren Projekten – sei es bei den Kesselgerüsten der thermischen Abfallverwertungsanlagen oder den Fundamenten der Onshore- und Offshore-Umspannwerke, an denen wir derzeit arbeiten, oder auch bei den Fundamenten der Hochgeschwindigkeitsbahn, bei denen unser Team bereits zuvor beratend tätig war.

Es war fast unglaublich, wie gut die öffentliche Verwaltung vorbereitet war. Die Begutachtung der Schäden und Reparaturarbeiten begannen unmittelbar nach dem Erdbeben. Beim Verband der Bauingenieure sind rund 3.000 Prüfingenieure registriert, die noch am selben Tag losgeschickt wurden, um die Schäden an den Gebäuden zu begutachten und mit einem roten oder gelben Code zu kennzeichnen. Beschädigte und in Schieflage geratene Gebäude wurden evakuiert und bereits eine Woche später abgerissen. Menschen, deren Häuser schwer beschädigt wurden, haben Anspruch auf kurzfristige Wohnbeihilfen in Höhe von rund 1.250 Euro pro Monat für die Unterbringung in Hotels, auch für kleinere Schäden an Haus oder Wohnung stehen Mittel zur Verfügung.

Straßen wurden, soweit möglich, noch am selben Tag geräumt und Brücken repariert. Und obwohl die Hauptstraße von Hualien nach Taipeh wegen beschädigter Brücken bis heute gesperrt ist, fuhren die Züge von Hualien nach Taipeh bereits am nächsten Tag wieder problemlos.

„Unmittelbar nach dem Beben wurde mit der Schadensbegutachtung und den Reparaturarbeiten begonnen.“

Auch das Mobilfunk- und Datennetz funktionierte ohne größere Unterbrechungen. In mehreren Videos war zu sehen, wie die Notfallwarnung per Broadcast-Funktion den Autofahrern offensichtlich half, zu realisieren, dass es sich um ein Erdbeben handelte und sie veranlasste, Schutz in Tunneln oder unter Schutzbauten zu suchen. Diese Warnfunktion wird automatisch aufgrund seismischer Messungen aktiviert und löst in der Regel ein bis zwei Sekunden vor dem Erdbeben, manchmal auch etwas später, einen Alarm aus. Der Alarmton ist ziemlich nervtötend und trägt nicht unbedingt zur Beruhigung bei, wenn man ihn zum ersten Mal hört.

Stromsektor

Auch wenn die privaten Haushalte keine direkten Auswirkungen auf das Stromnetz spürten, hätten die Schäden in einigen Kraftwerken beinahe zu einem Lastabwurf und damit zu Stromausfällen geführt.

Nach Angaben des Energieversorgers Taipower führte das Erdbeben dazu, dass mehrere Kraftwerksblöcke und Umspannwerke vom Netz genommen wurden, wodurch eine Kapazität von 3,2 GW ausfiel. Taipower wies darauf hin, dass das Energiespeichersystem eine entscheidende Rolle bei der Überbrückung des Engpasses gespielt habe, der durch die ausgefallenen Kraftwerksblöcke entstanden war, um einen größeren Stromausfall zu verhindern.

Zum Zeitpunkt des Erdbebens, stellten Kohle-, Gas- und private Gaskraftwerke die Stromerzeugung ein, gleichzeitig übernahmen Solarstromerzeugung und Energiespeichersysteme die Stromversorgung. Das Erdbeben ereignete sich kurz vor 8:00 Uhr morgens, die größten Auswirkungen auf die Stromerzeugung traten jedoch um 8:10 Uhr auf. Das Energiespeichersystem und die Stromerzeugung aus Sonnenenergie trugen jedoch offenbar zur Stabilisierung der Stromversorgung bei.

Die Offshore-Windenergieerzeugung ging ebenfalls zurück, vermutlich weil die Windenergieanlagen aufgrund der vom Zustandsüberwachungssystem erfassten ungewöhnlichen Vibrationen in den Leerlaufbetrieb übergingen. Bis zum Mittag desselben Tages war jedoch der größte Teil der Windkapazität bereits wieder am Netz.

Durch die Schäden an den Kohle- und Gaskraftwerken war die Reservekapazität auf nur 3 % gesunken, und Taipower hatte bereits einen Notfallplan für den Lastabwurf im Norden Taiwans ausgearbeitet. Wasserkraftwerke und GuD-Kraftwerke wurden hochgefahren, und die Industrie wurde aufgefordert, ihren Stromverbrauch zu reduzieren. So konnten direkte Auswirkungen auf die Stromversorgung vermieden werden. Wir sind auch froh, dass keines der Projekte, an denen wir derzeit arbeiten, betroffen war und dass unsere Projekte in den Bereichen Offshore-Windkraft, Photovoltaik und Batteriespeicher zur kurzfristigen Stabilisierung des Netzes beitragen konnten.

Die Situation zeigt aber auch, dass das Stromsystem in Taiwan im Grunde vor ganz ähnlichen Problemen steht wie das deutsche Netz: Aufgrund des bevorstehenden Ausstiegs aus der Kernenergie und des hinter den Regierungsplänen zurückbleibenden Ausbaus der erneuerbaren Energien droht ein Kapazitätsengpass. Auch ist das Netz von Taipower noch nicht fit für die Zukunft und es gibt große Pläne für ein Netzausbauprogramm in den kommenden zehn Jahren mit einem Budget von 16 Milliarden Euro.

Persönliche Erfahrungen und Lehren

Zum Zeitpunkt des Erdbebens war ich gerade im Urlaub an der Ostküste in der Nähe des Epizentrums. Glücklicherweise war es noch früh am Tag und wir waren noch im Hotel in einem Zimmer im Erdgeschoss, wo das Beben zwar stark zu spüren war, aber in der Umgebung keine Schäden entstanden.

Ich war gerade vom Radfahren zurückgekommen und stand unter der Dusche, als das Beben begann. Meine Handlungsmöglichkeiten waren dadurch etwas eingeschränkt. Ich drehte das Wasser ab, hatte kein Handtuch zur Hand und rannte aus dem Bad, um nach meiner Familie zu sehen, die neben dem Bett auf dem Boden kauerte. Als ich dort ankam, war es fast schon vorbei, und außer dem Beben war nichts weiter passiert, außer dass in der oberen Etage etwas vom Frühstücksbuffet gefallen war.

Die Kinder waren ziemlich entspannt, schließlich üben sie im Kindergarten regelmäßig, wie man sich bei einem Erdbeben verhält, und normalerweise tragen sie während der Evakuierung einen lustigen weichen Helm, um sich vor herabfallenden Trümmern zu schützen (diese Art von Schutzausrüstung kommt anscheinend aus Japan und hat den Vorteil, dass sie einfacher an- und auszuziehen und leichter zu verstauen ist als die Schutzhelme für die ganze Schule).

Rückreise auf Umwegen

Beim Frühstück kamen dann die ersten Nachbeben, aber das Hotelpersonal blieb weitgehend ruhig und es passierte nichts. Der Ernst der Lage wurde uns jedoch durch die vielen Nachrichten auf unseren Handys bewusst, und im Laufe der nächsten Stunde wurde immer deutlicher, dass unsere geplante Rückreise nach Taipeh durch Erdrutsche und andere Schäden problematisch werden würde. Deshalb beschlossen wir, noch einen Tag länger im Hotel zu bleiben und abzuwarten, wie sich die Lage im Laufe des Tages entwickeln würde. Der Hotelbesitzer war sogar so freundlich, uns die zweite Nacht nicht in Rechnung zu stellen. Als wir in der Nähe des Hotels unterwegs waren, sahen wir bereits Steinschläge und Erdrutsche, und es wurde klar, dass die Rückfahrt nach Taipeh nur über einen Umweg nach Süden und dann an der Westküste entlang möglich war. Die Fahrt dauerte fast 12 Stunden, während wir an der Ostküste entlang normalerweise nur viereinhalb Stunden gebraucht hätten. Am Ende kamen wir mit einem Tag Verspätung zu Hause an, aber alle waren wohlauf und unsere Wohnung war bis auf ein hohles Ei, das aus dem Regal gefallen war, unbeschädigt.

Besser für die Zukunft gerüstet

Dennoch hinterließen die Straßenschäden, die wir gesehen hatten, und die Videos von Autos, die während des Erdbebens unterwegs waren, ein etwas mulmiges Gefühl. Für zukünftige Fahrten in die Berge möchte ich besser vorbereitet sein – zumindest bis zu einem gewissen Grad, wie es auch in unseren Schulungen für Auslandsreisen vermittelt wird. Für diejenigen, die an diesem Tag irgendwo festsaßen, war es wichtig, genügend Wasser und aufgeladene Handys dabei zu haben und zumindest die Notrufnummern zu kennen, die man in einer solchen Situation anrufen kann.

Zu Hause ist es hilfreich, eine Notfalltasche griffbereit zu haben, die alles enthält, was man braucht, wenn man nicht sofort nach Hause zurückkehren kann (Wasser, Taschenlampen, Kopien wichtiger Dokumente, Snacks, Ersatztelefon und -batterien, ein Radio usw.). Ich kenne sogar Leute, die genau das vorbereitet hatten und ihre Sachen noch rechtzeitig mitnehmen konnten – das sollte also das Ziel für die Zukunft sein.

Letztendlich hat mir dieses Erdbeben einige Dinge wieder in Erinnerung gerufen, die im Alltag oft untergehen, und mir gezeigt, worauf man achten sollte, wenn man unterwegs ist. Natürlich ist man nie ganz auf den konkreten Ernstfall vorbereitet, aber es gibt schon Dinge, auf die man sich vorbereiten kann. Und die wunderschöne Ostküste Taiwans werde ich wohl irgendwann auch noch einmal besuchen…

Ein letzter Hinweis:

Wenn man in einem erdbebengefährdeten Land lebt, ist es ratsam, regelmäßig einen Blick auf die Empfehlungen von Forschungsinstituten wie dem Deutschen Geoforschungszentrum GFZ zu werfen (Infothek: GFZ (gfz-potsdam.de)). Außerdem sollte man sich als deutscher Staatsbürger im Ausland mit seiner Familie in die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes eintragen (ELEFAND Anmeldung (diplo.de)).

Juli 2024

Fichtner-Mitarbeiter Markus Schüller

Markus Schüller

Managing Director
Fichtner Pacific Engineers

Kategorien: Work@Fichtner|

Diesen Beitrag teilen

Diesen Beitrag teilen